Wie fair kauft Europa ein?

Steuern für und gegen ausbeuterische Arbeitsbedingungen
Wien, 5.11.2010. - Europas öffentliche Institutionen verfügen über eine enorme Kaufkraft: 17% des europäischen BIP macht der Einkauf von Staaten, Städten, Ländern und Gemeinden in Europa aus. Doch wie werden diese Güter hergestellt? Diese Frage beantworteten heute ExpertInnen aus Spanien, Österreich, Belgien und Deutschland bei einem von der entwicklungspolitischen Organisation Südwind veranstalteten Pressegespräch in Wien.

Uniformen aus marokkanischen Sweatshops
Die öffentliche Hand kauft in vielen Fällen gemeinsam mit Uniformen, Computern und Lebensmitteln ausbeuterische Arbeitsverhältnisse ein, wie eine neue Studie der spanischen Organisation SETEM über Arbeitsbekleidungshersteller in Tanger, Marokko, belegt. Das Fehlen von Arbeitsverträgen, Gesundheits- und Sozialversicherung sowie unzureichende Löhne sind nur einige der aufgedeckten Missstände in Tanger, einem der wichtigsten Textilproduktionszentren für den spanischen Markt. Die Ergebnisse der Studie zeigen klar auf - mit Steuergeld wird in Europa keineswegs sorgsam umgegangen. „Die untersuchten öffentlichen Institutionen treffen keinerlei Maßnahmen, um Verletzungen von Arbeitsrechten in Betrieben vorzubeugen, von denen sie Arbeitsbekleidung einkaufen“, stellt Albert Sales von SETEM fest. Ob Uniformen für die Polizei oder Arbeitsbekleidung für öffentliche Krankenhäuser, in den meisten Fällen wissen die AuftraggeberInnen nicht, von wem und unter welchen Bedingungen die Bekleidung hergestellt wird.

Arbeitsrechtsverletzungen am laufenden Band
Die Untersuchungen von SETEM zeigen auf, dass ausbeuterische Arbeitsbedingungen in der marokkanischen Bekleidungsindustrie keine Ausnahme sind. Das lässt darauf schließen, dass es bei der Produktion für die öffentliche Hand keineswegs besser aussieht. Daten aus dem Jahr 2009 belegen, dass in 75 Prozent der Textilfabriken in Tanger nicht einmal der gesetzliche Mindestlohn von 9,65 Dirham/ Stunde (entspricht 0,90€) gezahlt wird.

In den vielen illegalen Werkstätten, die als Zulieferer für Markenfirmen produzieren, sehen die Arbeitsbedingungen noch trister aus – 95% der ArbeiterInnen erhalten weniger als den gesetzlich festgeschriebenen Mindestlohn, knapp 90% der ArbeiterInnen verfügen weder über einen schriftlichen Arbeitsvertrag noch über eine Gesundheitsvorsorge. Obwohl kaum nachzuweisen ist, welcher Zulieferbetrieb für welches Unternehmen produziert, steht für Albert Sales von SETEM fest: „Es gibt eindeutige Hinweise dafür, dass Bekleidung für öffentliche Einrichtungen in Europa in illegalen und gefährlichen Werkstätten genäht wird. Die öffentliche Hand nimmt damit in Kauf, dass international anerkannte Arbeitsstandards verletzt werden.“

Armutsminderung durch verantwortlichen öffentlichen Einkauf
Es gibt aber auch Beispiele, die zeigen, dass die öffentliche Hand mit sozial verantwortlichem Einkauf einen wesentlichen Beitrag zu Armutsminderung und besseren Arbeitsbedingungen weltweit leisten kann. Der Nationale Aktionsplan zur Förderung einer nachhaltigen öffentlichen Beschaffung stellt in Österreich bereits die Weichen für eine ökologisch und sozial nachhaltige Beschaffung. Unterstützung bei der Umsetzung einer sozial fairen Beschaffungspraxis erhalten öffentliche Institutionen z.B. von der Initiative SO:FAIR, die u.a. von Südwind getragen wird. Mit praktischen Empfehlungen für den sozial fairen Einkauf von Arbeitsbekleidung, Lebens- und Genussmitteln und anderen Produkten unterstützt die SO:FAIR-Initiative Beschaffungsvorgänge, die als Positivbeispiele für andere dienen können. "Viele erfolgreiche Modelle in Europa beweisen bereits jetzt: Sozial faire Beschaffung ist möglich!", gibt sich Elisabeth Schinzel, Leiterin sozial faire Beschaffung bei Südwind optimistisch.

290 000 FAIRTRADE Bananen für Italienische Schulen
Ein Musterbeispiel stellt die Stadt Rom dar, wo öffentliche Schulen einmal pro Woche mit Bio-FAIRTRADE-Bananen beliefert werden. Das sind 290 000 Bananen pro Woche und damit zehn Prozent des italienischen Bio-Bananen Marktes. Unterstützung erhielt die Stadt beim Umstieg auf FAIRTRADE Produkte von der europäischen Dachorganisation für Fairen Handel, EFTA, mit Sitz in Brüssel. Astrid Hilaire von EFTA ist überzeugt, dass die Einkaufsmacht der öffentlichen Hand zugunsten des Fairen Handels genutzt werden muss. Denn FAIRTRADE unterstützt eine nachhaltige Entwicklung und stärkt vor allem KleinproduzentInnen in so genannten Entwicklungsländern.

Faire Ausschreibungen in Europa
Auf EU-Ebene gibt es klare Regeln für öffentliche Ausschreibungen. Hilaire weist darauf hin, dass Ausführungsbedingungen einer Ausschreibung, laut einer EU-Richtlinie, soziale und umweltbezogene Aspekte miteinbeziehen können. Zahlreiche EU-Mitgliedsstaaten haben in ihren nationalen Gesetzgebungen bereits ein klares politisches Statement zu fairem Einkauf abgegeben. Die Niederlande peilen, zum Beispiel, eine ausschließliche nachhaltige Beschaffung an.
Auch die EU-Institutionen selbst leisten einen wesentlichen Beitrag zur Förderung des Fairen Handels. Der Kaffeekonsum des EU-Parlaments, der sich immerhin auf neun Tonnen pro Jahr beläuft (Verbrauch 2009) wird ausschließlich über FAIRTRADE Kaffee abgedeckt. Außerdem verkaufen die Kantinen der Kommission sowie des Parlaments zahlreiche Produkte aus dem Fairen Handel. Astrid Hilaire ist überzeugt: „Fairer öffentlicher Einkauf ist von den gesetzlichen Rahmenbedingungen her in der Europäischen Union möglich, wie zahlreiche positive Beispiele beweisen. Die Einkaufsentscheidungen der öffentlichen Hand machen einen wesentlichen Unterschied für marginalisierte Produzentinnen und Produzenten des Südens.“

Ruhrgebiet gegen Kinderarbeit
Im deutschen Ruhrgebiet steht der Entschluss, gegen ausbeuterische Arbeitsbedingungen beim öffentlichen Einkauf einzutreten, auf breiter Basis. 40 Städte und Gemeinden haben sich verpflichtet, bei ihren Einkäufen auf Produkte aus ausbeuterischer Kinderarbeit zu verzichten und verstärkt auf Produkte des Fairen Handels zu setzen. Die politische Willenserklärung wurde in der Magna Charta Ruhr 2010 festgehalten. „Als europäische Kulturhauptstadt 2010 präsentiert sich das Ruhrgebiet als Modellregion für Europa. Wir möchten als faire Kulturhauptstadt die globale Verantwortung von Kommunen in Europa verdeutlichen“ erklärt Christoph Löchle vom Netzwerk Faire Kulturhauptstadt Ruhr.2010. Die Region umfasst ca. fünf Millionen Menschen und verfügt über ein öffentliches Einkaufsvolumen von 200 Milliarden Euro. Ein erhebliches Gewicht, um einen Beitrag zur Einhaltung der Menschenrechte zu leisten, findet Löchle.

 Vorzeigestadt Graz
Auch in Österreich gibt es bereits Musterbeispiele. Graz wurde am 30.9.2010 erste FAIRTRADE-Landeshauptstadt in Österreich und gehört damit zu den über 840 „FAIRTRADE-Towns“ weltweit – darunter London, Rom, Brüssel und San Francisco. „Gemeinden, Bezirke und Ministerien greifen in der Kaffeepause vermehrt zu FAIRTRADE-Kaffee und Oberösterreich startete einen Prozess zur verbesserten Integration von sozialen Kriterien in den Ausschreibungen des Landes“, schließt Elisabeth Schinzel von Südwind.

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Pressemappe mit Hintergrundinformationen

Rückfragen und Interviewvereinbarung:
Heike Hochhauser
Öffentlichkeitsarbeit, Südwind
Tel.: 01 405 55 15 330
E-Mail: heike.hochhauser@suedwind.at
www.fairebeschaffung.at

Südwind setzt sich als entwicklungspolitische Nichtregierungsorganisation seit über 30 Jahren für eine nachhaltige globale Entwicklung, Menschenrechte und faire Arbeitsbedingungen weltweit ein. Durch schulische und außerschulische Bildungsarbeit, die Herausgabe des Südwind-Magazins und anderer Publikationen thematisiert Südwind in Österreich globale Zusammenhänge und ihre Auswirkungen. Mit öffentlichkeitswirksamen Aktionen, Kampagnen- und Informationsarbeit engagiert sich Südwind für eine gerechtere Welt.

Die europäische Initiative "Verantwortliche öffentliche Beschaffung und menschenwürdige Arbeit JETZT!“ wird von der Europäischen Union gefördert. Die österreichische Initiative SO:FAIR wird von der Österreichischen Entwicklungszusammenarbeit, dem Land Oberösterreich, dem Land Niederösterreich und dem Land Salzburg gefördert. Die vertretenen Standpunkte geben die Ansicht der Südwind Agentur wieder und stellen somit in keiner Weise die offizielle Meinung der Fördergeber dar.

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